Margarete Stern “Faszination des Augenblicks”
Kunstverein Lingenfeld 31.3. - 14.4.2019
Time is a construct.
Ich stehe vor der Weite eines Meeres, am Ufer eines schier unendlichen Ozeans, dessen Wellen seit Jahrmillionen an das Ufer meines Bewusstseins schlagen.
Tauchen wir ein in die malerische und mystische Welt von Margarete Stern, während wir, gebettet auf feinem Gespinst, versuchen unsere Träume zu fangen, bevor sie uns entgleiten.
Wir stellen uns eine Frau vor, die vor einem Gemälde seit Stunden in ihrem Sessel verharrend, von dem Gedanken gefesselt ist: “There’s no time to lose“ Es ist keine Zeit zu verlieren. Sie blickt auf das Gemälde, versucht es zu verstehen, nimmt kaum die Berührung des Mannes an ihrer Seite wahr, der zwar präsent, aber nicht Gegenstand des Gemäldes ist, wird sich bewusst der schlaflosen Nächte: Es ist keine Zeit zu verlieren!
Liebe Gäste!
Ich wundere mich, wie viele Menschen auf Kunstausstellungen sich der Betrachtung von Gemälden widmen, deren Sinn an die Grenzen unseres Bewusstseins schlagen, die in ihrem Verstehen kaum einzufangen sind.
Vergleichbar ist dies mit Verhaltensweisen in der Altsteinzeit, als sich der Höhlenbewohner einer Magie unterwarf, die den Zweck hatte, gute Stimmung für einen vortrefflichen Jagderfolg zu erreichen - oder den Ausgang einer erfolgreichen Jagd gebührend zu feiern.
Die damaligen Höhlenbewohner haben ebenso gebannt dem “Zauberer” zugesehen, der die Jagd an den Wänden der Höhle darstellte, begreifen mussten, dass das Bild an den Wänden der Höhle mit den realen Gegebenheiten der Jagd in Einklang zu bringen ist.
Das heißt: Die Realität des Lebens wurde auf den Höhlenwänden als Wiedergabe bzw. Vorstellung dieser Realität manifestiert.
Inzwischen haben sich einige Grundbedingungen geändert.
Das Grundprinzip aber scheint gleich geblieben zu sein.
Trotzdem: Seit dem Zeitalter der Höhlenmalereien haben wir es nur unzureichend gelernt, das Phänomen der bildlichen Darstellung einigermaßen zu begreifen.
Einerseits stumpft unsere Wahrnehmungsfähigkeit immer wieder ab, Feinheiten aus der Umgebung erreichen uns nicht mehr, weil die Konvention stärker zu sein scheint als die Neugier.
Andererseits haben wir uns in dieser Höhle zusammengefunden, weil wir spüren, dass hinter den erlernten Fähigkeiten - wie Laufen, Lesen und Schreiben - es noch etwas anderes gibt, etwas, das wir immer wieder aufs Neue enträtseln wollen und doch nie recht begreifen können.
Dies in Sprache zu fassen ist vergleichbar, den Traum einfangen zu wollen, von dem wir wissen, dass die Nuancen des traumhaften Erlebnisses so komplex sind, dass unser sprachlich-gedankliches Wachbewusstsein uns wie Wasser oder Sand zwischen den Fingern zerrinnt.
Margarete Stern schafft es, mit dem Reiz der Oberflächenstruktur und Ornamentik, mit scheinbar liebevollen Motiven, den Betrachter in einen Wald, eine Landschaft, einen Raum, kurz, in eine Welt zu führen, wo beim näheren Hinsehen, hinter jeder Ecke, jedem Strauch, jedem Porträt etwas lauert, gleichsam der Ahnung vor einem Tier, das im Begriff ist, den ahnungslosen Touristen der Wildnis anzuspringen und mit Haut und Haaren zu fressen.
Das Tier, meine lieben Gäste, das Sie anspringt, ist Ihre eigene Psyche, das was Sie mit sich herumtragen, die Realität, die Sie kennen, das was hinter der Fassade des schönen Scheins lauert. Es ist die Psyche des Wiedererkennens, der Selbst-Wahrnehmung.
Aber, ich stehe nicht hier, damit Sie, wie bei einer Publikumsbeschimpfung erbost den Raum verlassen, sondern ich versuche Ihnen begreiflich zu machen, dass der Mut, den die Künstlerin mit dem Malen ihrer Bilder aufbringen musste, als Funke auf Sie, den Betrachter überspringen sollte, wie Lichtreflexionen einer Farbe auf die weiße Wand.
Da dringt kein Schrei nach draußen, keine übertriebene Mimik, die Gestik sparsam. Kein Verzweifelt-Sein, ernst die Gesichter - eine Befragung, die nach innen gerichtet ist und gleichzeitig den Dialog mit dem Gegenüber sucht.
Der augenblickliche Zustand könnte faszinierend sein, aber: Es ist keine Zeit. zu verlieren!
Porträts.
Menschen- und Tierporträts.
Lebewesen auf 2, 4 und 6 Beinen.
Das Kind, die Frau.
Die Kindheit, das Frau-Sein.
Weiblichkeit.
Emanzipation.
Einsamkeit in einer prachtvollen Landschaft.
Selbständigkeit.
Wunderbare Augenblicke.
Befragung der Kindheit.
Befragung der Weiblichkeit.
Kein Kokettieren, sondern ein Hinterfragen der Lebenssituation, des Ist-Zustandes, ein Befragen nach innen, der inneren Befindlichkeit.
Sich befinden
Sich fühlen
sich bewusst werden
Klarheit finden
in sich gekehrt
nach außen gerichtet.
Mit präziser Klarheit gibt Margarete Stern in ihren Porträts momentane Augenblicke wieder, die in einer zeitlichen Erstarrung situative Lebensumstände darlegen, befragen und hinterfragen.
Es sind keine Darstellungen wie bei Otto Dix, der seine Porträts in realistischem Duktus sarkastisch-sezierend überzeichnete, sondern sanft gemalte, aber umso eindringlicher in ihrer Ernsthaftigkeit wiedergegebene Facetten der weiblichen Befindlichkeit.
In präziser Klarheit wiedergegeben.
Und genau hier ist der Knackpunkt zu sehen:
Aus dem liebevollen Nachempfinden, der Darstellung in sanften Übergängen, wird plötzlich Ernst:
Die Fassade beginnt sprichwörtlich zu bröckeln - der Einsatz des Krackelierlacks lässt uns das nachempfinden - bekommt Risse, wird hintergründig, zweideutig und widersprüchlich.
Der Widerspruch zwischen der Schönheit des Augenblicks, der prachtvoll-ornamentalen Oberfläche, der Konflikt zwischen Schein und Sein wird in einer authentischen Realität und Eindringlichkeit wiedergegeben, der wir uns kaum entziehen können.
Die Augen des Nymphensittichs verfolgen mich bis in den Schlaf. Das schöne Ornament, aufgerissen, lässt mich in eine türkisblaue Leere starren. Die Frau hat ihr Gesicht mit ihrem Arm vor mir verdeckt. Der gelbe Sittich starrt mit misstrauischem Blick: Sing for you and for me.
Die abgerissen-messerscharfe Kante des Ornaments wirkt wie eine Bedrohung, wie ein Fallbeil, das jeden Moment den geneigten Hals der Frau zerschneiden könnte. Ist die schöne, heile Welt zerrissen? Klaffen Wunsch und Realität auseinander?
Bitte, sing ein Lied für dich und für mich! Für uns! Füge die Welt wieder zusammen. Lass mich aufwachen und mit dir singen und tanzen!
Das Kind steht misstrauisch blickend vor einer kalten Waldkulisse, hält eine Pusteblume, als ob es in seinem Händchen sein kleines Glück bewahren könnte.
Kennen Sie das Gemälde von Alex Colville, einem bekannten US-amerikanischen Maler, “Seilspringendes Kind”?
Oder Philipp-Otto Runges “Die Hülsenbeckschen Kinder”? Um nur zwei Kinderbildnisse zu nennen.
Runge, der Romantiker, zeigt das Unbeschwerte der Kindheit, die Kinder im saubersten, schönsten Sonntagsstaat im schönen Blumengarten, wie in einem Paradies.
Colville wiederum zeigt sein “Seilspringendes Kind”, im Moment des Hüpfens erstarrt, zwar auch in schönstem Sonntagskleidchen, aber in einer völlig sterilen, freudlosen Plattenbauumgebung, so dass der Betrachter die Mär vom Glück der unbeschwerten Kindheit kaum glauben mag.
Und Margarete Stern? Nicht so direkt wie Colville, zeigt sie die Problematik des Kind-Seins:
Einerseits verbinden wir mit der Pusteblume etwas Leichtes, Unbeschwertes, aber von einem Kind in der Hand gehalten, das wie ein Erwachsener angezogen, vor einem kalten, undurchdringlichen Wald steht.
In den Odenwaldbildern I bis IV, - von denen aus Platzgründen leider nur eines gezeigt werden kann -,
wird die Einsamkeit der Kindheit vor Augen geführt. Die bedrohliche Waldkulisse, die wie ein Geflecht die konventionelle Enge wiedergibt, aus der es auf dieser Bühne der Kindheit kein Entrinnen gibt.
Aber: Die Pusteblume, deren Fallschirmchen nach vorne in die Freiheit gleiten, während im Hintergrund der eisige Wald steht, signalisiert die Möglichkeit des Entfliehens.
Wie sehen die Perspektiven aus? ---
Wenn die Nacht an der Wange der Schlafenden entlangstreift.
Wenn der Sittich wacht.
Wenn die Nacht zum schlaflosen Tag wird.
Und Geschichten erzählt, die die Träumende in Ornamente verstrickt.
Dead End - zwei Richtungen, die keine sind!
Herbstzeitlose - wie schön unter Freundinnen zu sein, aber am Verwelken.
Wechselspiel - die junge Frau inmitten eines Paradieses mit Blüten und fliegenden Lebewesen, der Wolf, ihr Begleiter, den sie in starrer Haltung umfängt. Glücklich?
Oder die Frau im Boot in prächtiger Landschaft - einsam.
Die junge Frau, in engem Ornament-Raum eingezwängt, mit ernstem Blick, die prachtvoll-glänzenden Kirschen dem Betrachter dargeboten, die aber anscheinend nicht angenommen werden: “She can’t always get what she wantsâ“ - Sie kann nicht immer haben was sie will.
Die sie umgebende Pracht der Oberfläche weicht einer ernüchterten, aber realistischen Aussage.
Die Möglichkeit, zuzugreifen, ist aber gegeben!
Und dann wird aus dem Ernst Lachen, aus der Enge wird Weite: Time is a construct. Waiting, Warten und hoffen.
Und das Ornament, das sich wie ein roter Faden durch Margarete Sterns Gemälde zieht?
Nach dem Mediziner Hans Martin Sutermeister
(Zitat) “.. beruht das Zauberische am Ornament auf seiner suggestiven Wirkung, die auf Tiefenschichten unserer Psyche einzuwirken pflegt, ähnlich (..) rhythmischer Musik, um den Betrachter oder Hörer zu beeinflussen.”
Wie aber, wenn das Ornament als Kleidung den Körper umhüllt, umschwebt, scheinbar durchlässig, Körper und Ornament eins werden, wir nicht wissen, ob die Frau im großen Sessel sich in der Bewegung der Entkleidung oder des sich Bedeckens befindet? Wenn die Augen eher traurig, aber wissend, ernst die Mimik, durchdringend der Blick, abwartend, zentriert, gefangen ist im Ist-Zustand, im Schweigen verharrt?
Aber es gibt eine starke Verbindung, wiedergegeben durch den Zopf, stark wie ein Tau, dessen Ende die Frau gleichzeitig mit dem Tuch in ihrer Hand hält:
Das ist die Verbindung zwischen Kopf und Hand, Idee und Ausführung, Denken und Aufforderung zum Handeln. Gleichzeitig ist es das Spiel des Verdeckens und Verhüllens, mit Offenlegung und Befreiung.
Wenn wir durch die luftige Oberfläche der ornamentalen Wand vorstoßen, werden wir dort, vor dem Rot der Wand stehenbleiben, angehalten in einem Raum, der keiner ist. Wir werden uns vor einer Mauer des Schweigens wiederfinden, wo die unausgesprochene Aufforderung - weil nicht ausgesprochen - ins Leere geht, wo nur durch Verstehen Handlung erzeugt werden kann.
Der Konflikt heißt auch: Dialog.
Margarete Sterns Gemälde zeigen keine Rückenfiguren, bei denen wie bei Caspar David Friedrich das Paar in die gleiche Richtung blickt, verharrend in der Betrachtung des Mondes, sondern hier kann der Konflikt nur durch den Angesprochenen, den Gesprächspartner, dem Gegenüber gelöst werden.
Das kann der in den Gemälden “ausgesparte Mann” sein,
oder das können Sie, liebe Gäste, sein, indem Sie mit Ihrer Vorstellung in den Dialog eintreten, in die Rolle des Gesprächspartners schlüpfen.
Sie werden mit den Protagonisten zum Handeln aufgefordert, nicht, indem sie in die gleiche Richtung schauen, sondern sich in die Augen sehen.
Das ist der Charakter dieser Porträts: Sich in die Augen sehen, sich im Gespräch wiederfinden.
Komplex
Facettenreich
Mehrdeutig
Risikoreich
Widersprüchlich
No Love no Hope
Was ich Ihnen bisher völlig vorenthalten habe, ist, wie die “Faszination des Augenblicks” in den Gemälden Margarete Sterns eine Übertragung findet.
Das Bildelement Farbe, im Zusammenhang mit Farbauftrag und Pinselduktus, erreicht eine Wucht und ungeahnte Präsenz.
Man möchte dem Kritiker Louis Vauxelles zustimmen, der 1905, anlässlich einer Ausstellung von jungen Künstlern im Salon d’Automne ausrief:
“Donatello au milieu des fauves“ - “Donatello inmitten von Wilden”.
Nur: Bei Margarete Stern gibt es keinen Donatello, dafür umso mehr Frauenbildnisse.
Auch keine ungestüme, wie im Fauvismus-Expressionismus gestisch-verfremdete Farbgebung und Malweise.
Und doch ist Sterns Farbgebung vergleichbar dem Fauvismus: wild, ursprünglich, wuchtig, ungebändigt, real und surreal.
Die Farbe führt ein regelrechtes Eigenleben, auch wenn sie sich größtenteils an den Bildgegenstand bindet.
Sie ist begleitend,
überspitzt, realistisch,
übersteigert, dynamisch
oder sanft, unwirklich, unkonventionell
aber nie bunt!
Es ist eine Farbigkeit, bestehend aus Kontrasten, Melodien, Gleichklang oder Disharmonie.
Die teils lässig oder in realistischer Ausführung aufgetragenen Farbschichten werden unterstützt durch Farbfamilien, Tonwerte oder Komplementär-Kontraste.
In der Farbe, der Farbgebung an sich liegt die Befreiung.
Nicht in der formalen Befreiung, sondern in der thematischen Befreiung!
Die Malerin Margarete Stern geht den ihr eigenen Weg, indem sie die Protagonisten ihrer Gemälde, die wie gebannt, schlafend, träumend, scheinbar bewegungslos oder im Moment der Entscheidung wie eingefroren erstarrt zu sein scheinen, durch die Farbe aus diesem Dilemma, aus der Gefahr der Lähmung, herausführt.
Die Farbe suggeriert Aufforderung, Dynamik, Aktion:
Carpe diem! Pflücke den Tag!
Der Genuss, die Fülle, die Pracht, die Schönheit des Lebens, des Moments
- übrigens ein wunderbares Vanitas-Motiv! -
ist das Eine, aber der Rhythmus bestimmt das Lied, das ist das Andere. Die Möglichkeiten des Wandels sind gegeben - das Ergebnis offen.
Hinter allem steht die Hoffnung der Befreiung, der Loslösung aus der Erstarrung.
Realität und Vorstellung, Farbe und Form greifen hier ineinander über:
Muster jedweder Art können sich verändern und weiterentwickeln.
Das Reden, das Lachen, das Leben geht weiter.
There’s no time to lose!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Reinhard Ader, 31. März 2019